Montag, 14. November 2011

An den Ghats von Varanasi

„Hey Ma’am! This is Varanasi Junction!“  Ein Inder zieht an meiner Decke und reißt mich aus meinen süßen Träumen, die mir der rüttelnde Zug auf der sechsstündigen Fahrt von Lucknow bescherte. Verschlafen und etwas unwillig stolpere ich um 4:30 Uhr morgens in den Tag. Es ist noch dunkel, aber die Stadt schläft nicht. Der Sicherheit wegen weigert sich der Rikscha Fahrer, mich an die vorgeschlagene Adresse zu bringen und wir suchen das Hostel seiner Wahl auf. Auch der Besitzer hat heute eine kurze Nacht.

Beim Frühstück klärt mich Harroun über die Geschichte und religiöse Bedeutung der Stadt auf. Er stellt die richtigen Fragen: ob ich mit dem Motorrad fahren möchte? Kurze Zeit später zuckeln wir durch die engen Gassen und sehen die größte Universität Asiens, den Vishu und Monkey Tempel. Letzterer heißt so, weil hunderte von wilden Affen am Gelände herum hüpfen. Varanasi ist bekannt für erstklassige handgewebte Seidenprodukte. Die Stadt liegt an der Silk Road, wo die Händler in früheren Zeiten Seide einkauften, um sie im Westen zu vertreiben.  Unterwegs erzählt mir Harroun über sein Leben und sein Vertrauen ehrt mich. Mit 19 Jahren wurde er von seiner Familie an eine drei Jahre jüngere Frau verheiratet. Geliebt hat er sie nie, allerdings gibt er sich große Mühe, ihr das nicht zu zeigen. Seine tiefe Traurigkeit ist nicht zu übersehen. Er ist vom Leben enttäuscht.

Am Abend widme ich mich dem eigentlichen Grund des Stadtbesuches: den Ghats von Varanasi. Ghat steht für Treppe und von denen gibt es unzählige entlang des heiligen Flusses. Spirituell gesehen, entstammt der Ganges dem Himmel und fließt direkt dorthin zurück. Darin zu baden oder die menschlichen Überreste darin zu verstreuen, bedeutet also Gott nahe zu sein. Man erhofft sich, den ewigen Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen. Die Fahrt auf dem Boot ist romantisch aber wenig nützlich. Viel aufregender ist es, sich unter die herum schlendernden Menschen zu mischen. Auf dem Rückweg vom Main Gate spricht mich ein dünner alter Mann mit dichtem weißem Bart an. Vom Ganges inspiriert sagt er mir die Zukunft voraus. Die Menschen faszinieren mich jeden Tag aufs Neue.

Chef-Kremator vor dem
Verbrennungsplatz

Am nächsten Morgen folgt eine weitere interessante Begegnung: Der Chef-Kremator persönlich erklärt mir den Prozess der Leichenverbrennungen. Gespannt lausche ich seinen Geschichten. Seine Familie hat seit Jahrzehnten einen der beiden Plätze an den Ghats über und wohnt im Gebäude dahinter. Pro Tag werden an die sechzig Leichen verbrannt, die meisten am Nachmittag und Abend. Es gibt viel Nachfrage. Die Verstorbenen werden mitunter in Eis gekühlt aus weiten Teilen des Landes nach Varanasi gebracht. Eine Verbrennung kann die Familie in finanzielle Schwierigkeiten bringen, denn sie kostet zwischen drei und fünftausend Rupies (zwischen 50 und 80 Euro), das Holz nicht inbegriffen.

Bei der Verbrennung sind meist nur die Männer der Familie dabei. Sie entzünden das Feuer selbst und sind (zumindest vordergründig) nicht traurig, denn die Seele des Toten darf nun die Erde verlassen und wird möglicherweise nicht wieder inkarnieren. Der Brustkorb des Mannes und die Hüften der Frauen werden nicht verbrannt sondern vollständig dem Ganges übergeben. Babies, schwangere Frauen, Selbstmörder dürfen auch nicht eingeäschert werden. Plötzlich stößt sein Freund, der Astrologe, hinzu. „Du bist eine Zwilling-Geborene“ weiß er bei meinem Anblick und erzählt mir Details aus meinem Leben. Der rund fünfzigjährige Mann hatte einen angesehenen Job in einer Bank in Bangalore. Nun ist er des Lebens müde und ist zum Sterben nach Varanasi zu seinem Freund, dem Kremator, gekommen. Meine lebensbejahenden Worte hört er nicht gerne. Seiner Gestik nach möchte er nun lieber alleine sein.
Beeindruckt von diesen Begegnungen ziehe ich von dannen und verbringe die restliche Zeit damit, jene Menschen zu beobachten, die samt ihrer Kleider im Ganges baden, ihre Wäsche darin waschen, Zähne putzen und ihre Morgentoilette am Ufer erledigen. Währenddessen wird der Schlamm von den Treppen gewaschen, damit die Ghats für das Festival an diesem Vollmond-Abend „glänzen“.  Die „Boat People“ werden ihre Schiffe um das  100fache vermieten. Wie gut, dass ich schon genügend Eindrücke gesammelt habe.

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