Donnerstag, 5. Januar 2012

Warten auf Godot

In Wien kommt es ja mitunter vor, dass Fahrgäste in der U-Bahn „erkranken“ und deswegen der Betrieb gestört ist. In Indien kann es passieren, dass man während des Wartens auf einen Zug erkrankt oder am Bahngleis das Zeitliche segnet. Heute erlebe ich, wie sich eine Nacht bei Temperaturen um die Null Grad am Bahnhof anfühlt. Aufgrund dichten Nebels hat mein Zug von Delhi nach Lucknow vier Stunden Verspätung und soll um 0.45 Uhr eintreffen. Aus dem Süden kommend bin ich mit einer Jeanshose und einem Sweater nur leicht bekleidet.

Eiseskälte am Bahnhof in Old Delhi
Der Blick auf die Anzeigetafel verheißt nichts Gutes. Der Zug wird es zur angegebenen Zeit nicht schaffen. In der Zwischenzeit haben sich dutzende Menschen in ihre Wolldecken und Schals gewickelt und liegen in leicht gekrümmter Haltung am Boden. Vor dem Bahnhof sieht es auch nicht anders aus, nur dass die Menschen dort sitzen statt liegen. Durchgefroren beschließe ich gegen Mitternacht Winterkleidung zu kaufen. Einen Fleece-Pullover und eine Haube reicher geselle ich mich zu einigen am Boden hockenden Männern und esse mit ihnen Reis und Chapati (Weizenflade).

Hunderte Inder schlafen am
Boden der Bahnhofshalle
Zeit, die Ankunft meines Zuges zu checken. Die digitale Anzeige lässt die Ankunft meines Zuges mit 2.45 Uhr ersehnen. In der Wartehalle gönne ich mir eine Mütze voll Schlaf. Wieder raus in die Kälte und mit vollem Gepäck zu Gleis 13. Neben den zwei Fleece-Pullovern wärmen mich nun noch ein Bettlacken und ein Handtuch. Zum Aufwärmen einen Chai-Tee. Gerüchteweise wird es mein Zug zur angegebenen Zeit nicht schaffen. Dass sämtliche Anzeigetafeln unterschiedliche Zeiten affichieren, ist auch nicht gerade hilfreich. Wieder zurück zum Start.


Shaheed Express bahnt sich den
Weg durch den dichten Nebel
 Meine Moral ist an einem Tiefpunkt angelangt. Übernachtigt und durchgefroren schlürfe ich das siebte Heißgetränk. Gemütlich in seinen Sessel gelehnt erklärt mir der Bahnhofs-Beamte, dass ich meinen Zug nicht vor 4.15 Uhr erwarten darf. Ich glaube ja nur mehr, was ich sehe und begebe mich wieder zum Gleis. Die wartenden Passagiere suchen ihre Namen auf den Reservierungslisten. Meinen kann ich nicht finden. Um halb fünf werden die Menschen um mich nervös. Es wird doch nicht bedeuten, dass der Zug kommt? Tatsächlich trifft er um 4.30 Uhr ein und ich dringe zielstrebig zu meiner Liege vor. Auf meiner zehnstündigen Fahrt werde ich weiter frieren, denn in meinem Abteil gibt es keine Heizung. Zum Glück habe ich schon gelernt, in jeglicher Verfassung zu schlafen ;-)

Durchsicht der Sitzplatz
Reservierungen vor der Abfahrt
Nach diesem Erlebnis könnte man annehmen, dass eine Verspätung von 7 Stunden nicht zu übertreffen ist. Aber „Incredible India“ hat immer eine Überraschung parat. Auf der Rückreise nach Delhi ist es wieder neblig…  Meinen Freunden habe ich es zu verdanken, dass ich nicht am Bahnhof schlafen muss. Anstatt um 19.30 Uhr abends trudelt der Farakka Express mit 16 Stunden Verspätung am nächsten Tag um 11:30 Uhr (!) ein. 500 Kilometer und 12 Stunden später erreichen wir Old Delhi. Kaum zu fassen.
Verspätung hin oder her – Die Bahn ist als Transportmittel in Indien nicht wegzudenken. Kostengünstig bewegt sie täglich rund 300 Mio. Menschen (= jeder 4. Inder). Da wartet man doch gerne etwas.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen